Die Bedeutung der Träume
Willy Peter Müller


Es gibt es keine allgemeingültige, von allen Wissenschaftlern anerkannte Traumtheorie, sondern mehrere Traumdeutungsschulen konkurrieren miteinander.

Sigmund Freud nimmt an, dass jeder Traum eine Wunschanmeldung ist. Ein latenter unbewusster Wunsch, angestoßen durch Tagesereignisse, der einer Reihe von Entstellungen unterliegt sowie der Zensur des Über-Ichs. Dabei geht es oft um unbewältigte Kindheitstraumata, Aggressionsthemen, Verdrängtes, Tabuisiertes, und besonders um Sexuelles. Freud hat genial Mechanismen der Traumarbeit entdeckt, in seiner Sexualtheorie ebenso wie in seiner Wunschtheorie wird man ihm aber nicht ganz folgen, und als Materialist hat er viele Bereiche, die im Traum dargestellt werden, übersehen.

Die Traumtheorie von Carl Gustav Jung ist durch eine Vielzahl von Erfahrungen eher bestätigt, nach ihr arbeite ich bevorzugt. Laut Jung ist der Traum "unbestechliche Natur", und die Natur lügt nicht. D.h. Träume sind Wahrheits-, Bestandsaufnahmen. Die gedachte Entstellung ist lediglich die Symbolsprache, die dem Bewusstsein fremd ist; das Unbewusste spricht grundsätzlich in Bildern (Gleichnissen, Analogien)!

Die Kenntnis der (Traum-)Symbole, die einen kollektiven und vorgegebenen Charakter in allen Seelen haben, ist ein erster entscheidender Schlüssel, Träume zu verstehen - neben guter Kenntnis der Psychologie. Hinzu kommen Symbole (in geringerem Maße), die subjektiv, individuell sind, je nach Biografie, persönlicher Besetzung. Des weiteren entdeckte Jung, dass Trauminformationen auch über andere Menschen möglich sind oder auch aus der riesigen Vorgeschichte (Schwangerschaftszeit, Sippschaftsgeschichte, Evolution) stammen können. Nicht zuletzt haben wir auch spirituelle oder religiöse Träume: großartige kosmische, überzeitliche Einsichten (diese sind seltener und nicht so erinnerungsfähig), kommen meist aus Tiefschlafphasen.


Unsere Altvorderen deuteten Träume immer zukunftsbezogen. Dies, und das Spirituelle, entspricht Ansichten des Anthroposophen Rudolf Steiner. Tatsächlich gibt es hin und wieder prognostische Träume, mit dem gesamten Lebensentwurf (etwa in Kinderträumen - Kinder können z.B. auch das zukünftige Scheitern der Ehe ihrer Eltern durch Träume von Einbrechern im Haus voraussehen). Sofern sich jemand nach 30 Jahren an einen Kindheits- oder Jugendtraum erinnert, wird er erstaunt sein darüber, was das Unbewusste damals schon wusste.

Oder es gibt Träume, wo wir unsere übergeordnete Aufgabe für die Erdenzeit gezeigt bekommen. Man kann sagen, im Prinzip sind die Träume allwissend. Hierzu ist auch die altindische Traumtheorie interessant, wo sieben Stufen der möglichen Distanz der träumenden Seele zu ihrem zeitlich-materiellen Erdenleben beschrieben werden. In seltenen, abgehobenen Träumen haben wir eine eindeutige Botschaft über die Unsterblichkeit unseres Höheren Selbst.


Jedoch die Mehrzahl der Träume ist die bekannte Art von Verarbeitungsträumen. Aktuelle Umstände spülen immer wieder bestimmte Urerfahrungen von uns hoch, im Sinne eines "wie wenn", im Sinne der Erstprägung, im Sinne eines Gleichnisses. Das Unbewusste, in dem übrigens keine Erfahrung verloren geht, arbeitet betont assoziativ. Dabei kann man feststellen, dass eine Handvoll großer Themen, in vielfacher Variation, die Menschen ein Leben lang in ihren Träumen begleiten. Hier kommen wir auch theoretisch zu einem Traum-Ich, das etwas "lösen", heilen, bewältigen will.

Da geht es zum Beispiel um schmerzliche oder auch entbehrte Erfahrungen, die man hätte haben müssen, um sich innerlich, psychisch weiterzuentwickeln; sonst stehen da Blockaden in der Entwicklungspsychologie. Das Traum-Ich geht immer wieder an diese Verletzungsstellen, a) um sie zu verstehen (Bewusstmachung), b) um sie möglichst zu korrigieren. So entstehen z.B. die wiederkehrenden Albträume. Sie enden oft zu früh, wie abgebrochen, d.h. vor dem Unerträglichen; aber genau um diese Wahrheit ginge es, für den Heilungsweg; genau um diese Schock-Wahrheit am Ende geht es im Albtraum.

Ein Albtraum ist erst gelöscht, wenn er verstanden ist! - Der schockierende Inhalt kann hier oft auch aus der ererbten Familien-Vorgeschichte stammen. Auch sonst sind die Gründe für Ängste nicht immer in der eigenen Biografie zu finden. - Überhaupt ist wichtig: das Traum-Ich oder Unbewusste halluziniert nicht, es bildet sich nicht fiktiv etwas ein, es gibt immer ein konkretes Ereignis, worauf der Traum fußt. Träume beruhen auf Fakten (so fern und unbekannt die auch sein mögen, und so symbolisch sie auch daherkommen mögen).

Es übertreibt auch gern die Symbolsprache, d.h. eine alte Todesangst wird dargestellt wie eine Toderfahrung (das Unbewusste dachte damals, es müsste sterben; dazu gehört z.B. eine abgelehnte Schwangerschaft, ein Abtreibungsversuch, ein Geburtstrauma, ein alleingelassenes Kind). Solche Dinge, die ich gerade erwähnt habe, führen zu einem lebenslangen Minderwertigkeits-, Selbstablehnungs-, Scham-, Schuldkomplex. Aber ich tröste: Im Traum erfährt man, dass jeder (von Gott) grundgeliebt ist (das ist eine spirituelle Reparatur des Urvertrauens) und dass jede Existenz Sinn macht.


Im Folgenden übersetze ich einmal ein paar Traumsymbole:

Fahrstuhl: Symbol des Geburtsgeschehens; mit den typischen Problemen, dass der Fahrstuhl steckenbleibt, noch oben oder unten durchrast, etwas in der Tür eingeklemmt ist, Notruf nicht betätigt werden kann = alles Todesnähe-Erfahrungen bei der Geburt (und sprechend: ging es zurück? stockte es? usw.). Später schlägt sich generell unsere Uterus-, Geburts-, Stillzeiterfahrung auf die Sexualität nieder; der Lebens-Eros für Fötus, Baby entspricht dem sexuellen Eros später.

In frühester Erfahrung kann auch ein Grundmuster entstehen, "es nicht zu schaffen", oder das Muster der dauernden "Verspätung" [schlägt sich dann später nieder auf Abfahrten, Urlaub, Prüfungen, Beruf, Hausarbeit, emotionale und sexuelle Bereiche]. So sind auch Träume zu deuten, bei denen man die Koffer nicht rechtzeitig oder genügend packen kann: ursprünglich gelang meist die Geburt nicht recht (die Angst vor Misserfolg bleibt als Prägung).

Ähnlich auch Toilettenträume (sehr häufig): Es geht um ein "Muss", ein Urbedürfnis; ich nenne es die erste Ego-Anmeldung (gibt es einen Platz für mich auf der Welt?). Wenn die Toiletten verschmutzt sind, haben Eltern/Vorfahren schwere Beeinträchtigungen, Lasten hinterlassen. Wenn sie verstopft sind, gab es Widerstände gegen unsere Weltankunft, Existenz; oder man hat erhebliche frühe Unterdrückungen von Lebenskräften, Trieben erfahren. Wenn es keine Sichtwände gibt: das Kind hatte keine Eigenwelt, Rückzugsmöglichkeit, sondern Kontrollpersonen beeinflussten alles (Erziehungsstil).

Fliegen: Loslösung vom körperlichen Leben, Zustand der freien Seele (quasi: man ist quasi kurzfristig wieder "Geist", der man vor der Geburt war und nach dem Tod sein wird). Daher meist Freiheits-, Glücksgefühl sowie gesteigerte Erkenntnis. Ähnlich dem Schweben, der Levitation in der Mystik und dem out-of-body-Erlebnis (Nahtodforschung). In diesen Zusammenhang gehören auch Vögel: unmaterielle Seelen, freie, telepathische Gedanken. Ebenso das Symbol der geflügelten Engel. Oder der Pegasus. Landen/Einfliegen heißt oft: auf die Welt kommen. Nach oben abgeholt werden per Fluggerät kann den Zustand nach dem Tod meinen. Flugzeugabstürze: unsanfte Geburt. Fliegen also als große Distanzfähigkeit gegenüber den weltlichen Problemen (manchmal auch Flucht). Zuweilen mit zeitlosem Sehen verbunden: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, Jenseits in eins (spirituelle Einweihung; Zeitlosigkeit).

Übrigens sind fast alle Symbole ambivalent! D.h. sowohl positiv als auch negativ möglich. Es gibt den Archetyp "Wasser des Lebens" und "Wasser des Todes" (Ertrinken, trübes Wasser, Schlamm, Wassereinbruch in Zimmer/Haus). Gelb kann bedeuten: Süchtigkeit und Erleuchtung. Schwarz ist Tod/Trauer und Wiedergeburt/Potenz. Weiß ist Sterilität/Tod und Verstärkung (wie der weiße Elefant bei Buddha: besonders starke Weisheit und Erinnerungsfähigkeit) und Vollkommenheit/Himmlisches/Idealität.

Nur ganz wenige Symbole sind eindeutig, einwertig: Holz in Naturform, -farbe ist Leben, Lebenskraft, Wachstum, Werden (steht gerne wie das grüne Gras für das erste Wachsen im Uterus). Plastik immer negativ: Stress, körperliche oder seelische Krankheit, Widriges (Lebensfeindliches = Unechtes). Zu sozusagen unguten Symbolen gehören meist auch Insekten, Fliegen, Maden u. ähnl. [etwas anders ist es bei Bienen, Käfern], sie meinen gern: Aggressionen, Krankheiten, eigentlich Krankmachendes gegen uns.

Bei der Traumdeutung man kann zu Beginn nicht sagen, ob Zukunft, Vergangenheit/Erinnerung, das Jetzt oder Potentialität/Angst/Perspektive gemeint sind; Zeitstrukturen gehen im Traum durcheinander, sind aufgehoben.

Sehr faktisch, ernstzunehmen ist etwas, wenn es dreimal geträumt wird, dreimal auftaucht oder mit der 3 verbunden ist. Drei ist eine Zahl der Faktizität, Produktion, Entwicklung, Dialektik [ähnlich wie der Archetyp der 3 Wünsche im Märchen oder wie das Tao plus Yin und Yang], steht manchmal auch für etwas typisch Männliches. Drei ist eine qualitas, selten als simple Maßeinheit gemeint. Alle Zahlen sind Qualitäten, weniger denn Mengenbezeichnungen.

Schulprobleme im Traum wie in der Realität [auch unsere Realität ist eigentlich symbolisch zu lesen, wie Goethe oder Hesse das konnten, als Ausdruck des Geistes oder Unbewussten] verweisen auf Probleme in unserer "ersten Schule, Vorbereitungszeit": das ist Schwangerschaftszeit und/oder Kindheit vor der Pubertät. - Träume arbeiten viel mit Stellvertretungen! Oft sind Personen nur Platzhalter für andere (auch Tiere können so auftreten); selbst unser Ich im Traum vertritt manchmal einen anderen (z.B. Elternteile, Vorfahren).

Perspektivwechsel ist üblich, die Zeit geht manchmal umgekehrt, und am Ende der Traumgeschichte steht oft der kausale Anfang. Maßeinheiten sind austauschbar (soundsoviel Kilo stehen z.B. für die gleiche Menge an Kühen, Jahren, Metern). Bei den Stellvertretungen kann z. B. im Traum einer Frau die "Mutter" ihr eigenes Mütterliches und die "Tochter" ihr Sexuelles meinen (natürlich auch sie als Mädchen). Kinder sind nicht, wie meist in Traumbüchern geschrieben wird, etwas Neues, sondern als Archetyp, als Grundsätzliches steht das "Kind" für die Liebe (die alten Religionen wussten das).


Man muss sich in der Traumdeutung in sehr bildliches, symbolisches, fast infantiles Denken hineinversetzen, wo nur assoziativ gedacht wird, wo die Traumarbeit über Ähnlichkeitsbrücken geht, quasi hemmungslos und genial "ähnliche" Bilder und Gefühle gleichgesetzt werden [z.B. die eigene Frau, eine Freundin mit der alten Muttererfahrung]. Es ist die Gleichnissprache der Seher, Märchen, Mythen, voller Metaphern. Der Traum ist wie Fabeln und Parabeln, nicht ohne Tiefe.

Das Unbewusste sagt, Geburt und Tod sind dasselbe, das Bewusstsein sagt dazu Nein und begreift nicht, dass eine tiefe Ähnlichkeit, geheimnisvolle Identität zwischen diesen beiden "Übergängen" besteht und dass an diesen Stellen auch die Ängste dieselben sind oder dass es zweimal per Drehbewegung geht.

Das rationale Denken der Logik kann zwar Fehler, Fehlbesetzungen erkennen (oder meint auf Widersprüche zu stoßen), aber reicht nicht an Weisheit, Wahrheit des unbestechlichen Unbewussten im Traum heran. - Mein Anliegen ist auch: Dem Menschen das Vertrauen zu geben, dass er im Traum doch weiß, was ihm unbekannt erscheint, was ihn belastet. Jeder hat in seiner Tiefe die Informationen über alles gespeichert. Über die schonungslose Wahrheit, über die Ewigkeit, über den Mitmenschen, über seine eigene Vergangenheit und Identität. Wahrheit hilft heil zu werden. Das Bewusstsein steht im Dienste des Egos, der Traum im Dienste der Wahrheit.




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